Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.
Übersicht aller Weimar-Fellows, Nietzsche-Fellows, Bauhaus-Fellows und MWW-Fellows des Jahres 2022 in alphabetischer Reihenfolge
Simon Duncker (Nietzsche-Fellow, September/Oktober 2022) promoviert an der Universität Bielefeld. In seiner Dissertation „Die moderne Ordnung der Freiheit zum Tode“ entwirft er mittels einer wissenschaftsgeschichtlichen Diskursanalyse und den Machttheorien Michel Foucaults eine Theorie moderner Suizidkontrolle. Die liberale und entmoralisierende Befreiung suizidaler Subjekte ging mit ihrer semantischen und institutionellen Ordnung durch Humanwissenschaften einher, die Moral implizit reproduzieren. Nietzsche ist ihm hierbei Freund geworden, weil seine Lehre vom freien Tode eine ethisch-politische Problematisierung der Freiheit suizidaler Subjekte als eine Metaphysikkritik jenseits von liberal-individualistischem Freifahrtschein und verallgemeinernden Moralisierungen erlaubt. Fellowship-Thema: „Vom freien Tode als tragische Erfahrung suizidaler Subjekte und ihr Beitrag zur Sterbehilfedebatte“.
Dr. Saskia Fischer (Weimar-Fellow, Juli/August 2022): Im Rahmen meines Fellowships erforsche ich den Zusammenhang von Satire und Antisemitismus am Beispiel der Deutschen Tischgesellschaft. Gerade diese ‚deutsch-christliche‘ Vereinigung, die keine Juden und keine Frauen in ihren Reihen zuließ, macht in erschreckender Weise deutlich, wie sehr Antisemitismus innerhalb intellektueller Zirkel des 19. Jahrhunderts offen ausgelebt wurde und als Teil auch der berühmten romantischen Geselligkeitspraxis verstanden werden muss. Besonders die satirische Brechung der Reden Achim von Arnims und ihr Spiel mit den moralischen Lizenzen der Literatur sind für mich von Interesse. Vor allem aber kann der Einblick in die erst kürzlich vom Goethe- und Schiller-Archiv erworbenen Tagblätter dabei helfen, sowohl die umstrittene Frage nach dem Antisemitismus im Werk Arnims als auch die schwierige Frage, wie weit die Satire antisemitischer Stereotype gehen darf, umfassend aufzufächern. Dies ist letztlich ein Problem, das bis in aktuelle Debatten um Antisemitismus und Kunstfreiheit führt.
Dr. Ute Frietsch (Weimar-Fellow, Mai/Juni 2022): Als Philosophin und Wissenschaftshistorikerin arbeite ich seit einigen Jahren zur frühneuzeitlichen Alchemie. In Weimar werde ich mich Quellen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts widmen, welche die alchemische Symbolik in der Hof- und Gelehrtenkultur der Aufklärung und Romantik demonstrieren. Ich analysiere Kupferstich-Doppelblätter und Zeichnungen zu den Planetenfesten Augusts des Starken, die 1719 in Dresden stattfanden. Außerdem untersuche ich die Privatbibliothek sowie die Ausleihen Johann Wolfgang von Goethes. Hierbei nehme ich insbesondere Drucke aus den Bestandsgruppen zu Freimaurerei und Geheimlehren, zu Chemie und Alchemie, zur Praxis des Bergbaus sowie zu Vulkanologie und Neptunismus in den Blick und stelle Goethes literarische Aneignung der alchemischen Symbolik sowie sein Engagement für die universitäre Chemie wissenschafts- und kulturgeschichtlich dar.
Dr. Maren-Sophie Fünderich (MWW-Junior-Fellow, Februar-April 2022): Zur Wohnungseinrichtung des bürgerlichen Mittelstandes im Kaiserreich forsche ich seit der Promotion in Neuerer Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, Prof. Dr. Werner Plumpe). Der Forschungsansatz verbindet die kunsthistorische Möbelforschung mit Fragen der Wirtschafts-, Technik- und Sozialgeschichte und steht auch im Mittelpunkt meiner laufenden Forschungsarbeiten. So untersuche ich das Verhältnis von Kunstgewerbe, Handwerk und Industrieproduktion zwischen 1880 und 1920. In Weimar möchte ich mich mit der Designausbildung vor dem Bauhaus beschäftigen sowie mit den Möbeln von Elisabeth Förster-Nietzsche und ihrer Verbindung zu Henry van de Velde.
Dr. Miguel Gaete (Weimar-Fellow, März/April 2022): I recently earned my PhD in History of Art from the University of York (UK). My investigation looked at the development of German Romanticism in Chile. Moreover, I hold a MA in advanced studies in History of Art from the Universidad de Barcelona, Spain and a first PhD in aesthetics from the Universidad Autonoma de Madrid. My research specialisations are Romanticism and the period of explorations, with an emphasis on the synthesis among sciences, issues of race, and colonialism in the visual depiction of non-Western regions, particularly South America. My research approach is interdisciplinary, working across aesthetics, history of sciences, visual culture, the Indigenous people’s perspective, decolonial studies, and art history. My research topic for the Weimar Fellowship: “Karl Alexander Simon: An Iconographic and Technical Study of his Paintings in Weimar."
Dr. Jürgen Große (Nietzsche-Fellowship, September/Oktober 2022). Projekt: „Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments“. Geb. 1963, zunächst Musikschüler (Piano-Akkordeon), dann Berufsschüler (Ausbildung zum Schriftsetzer), 1986–1992 Studium der Geschichte und Philosophie an der HU zu Berlin und der FU Berlin, 1996 Promotion, 2005 Habilitation, seit 1999 freier Autor.
Jüngere Veröffentlichungen: Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch (2021), Der sterbende Gott. Agnostische Anmerkungen (2020), Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch (2019), Der beglückte Mann. Posterotische Meditationen (2015, 22017), Erlaubte Zweifel. Cioran und die Philosophie (2014), Lebensphilosophie. Reclam Grundwissen Philosophie (2010), Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989 (2010).
Bettina Güldner (Bauhaus-Fellow, Februar/März 2022): Die Arbeitsstationen Dessau-Berlin-Weimar offenbaren meinen kunsthistorischen Blickwinkel: die Geschichte des Bauhauses. Darin bündelt sich mein Interesse an der Tradition künstlerischer Artefakte, die stets als modernebildend gelten. Meine Arbeitsmethode ist die Anschauung. Ausstellungen in Institutionen sowie dem eigenen Projektraum setze ich gleichermaßen wie Architektur- und Designführungen und die akademische Lehre als Bestandteile einer vermittelnden Tätigkeit ein. Ich möchte die Betrachter mit analytischen Fragen an die Kontinuität materieller Kultur heranführen. Weimar selbst wird nun zum Material. Mit einer Intervention frage ich nach dem Spannungsverhältnis von Ideengeschichte; einer inhärenten Verbindung der Weimarer Klassik mit den ästhetischen Forderungen der Moderne im Alltag Weimars betrachtet.
Tamiki Habano (Weimar-Fellow, Januar/Februar 2022): Seit dem Anfang meines Masterstudiengangs beschäftige ich mich mit Friedrich Schlegel, einem wichtigen Vertreter der Frühromantik. Sein neuer Ansatz der literarischen Kritik besteht darin, nicht nach allgemeingültigen Regeln zu interpretieren, sondern Kriterien aus dem Charakter eines jeden Werkes zu bilden. Kritik für Schlegel bedeutet, ein Werk „[zu] ergänzen, [zu] verjüngern, neu [zu] gestalten“: Kritik bedeutet Rekonstruktion. Derzeit setze ich mich besonders mit Schlegels einzigem Roman Lucinde auseinander. Für die Analyse dieses komplexen Werkes nutze ich erzähltheoretische Mittel. In frühesten Forschungen wurde diese Struktur zumeist mit Begriffen Schlegels wie Arabeske oder romantische Ironie beschrieben und die erzählerische Struktur lange Zeit übersehen. Ich möchte dieses Werk unter erzähltheoretischen Aspekten analysieren und diese Struktur im Zusammenhang mit Friedrich Schlegels literarischer Theorie untersuchen.
Carolin Hahn (Weimar-Fellow, Februar/März 2022): Die Dichtungen und Entwürfe August von Goethes sind zu Unrecht vergessene Dokumente der Weimarer Kultur. Sie geben unter anderem wertvolle Einblicke in die Beziehungen zu seinem Vater, zu seiner Ehefrau Ottilie von Pogwisch und zu anderen Persönlichkeiten des Weimarer Literaturlebens. Ziel meiner Forschungsarbeit ist die Edition, Kontextualisierung und Analyse dieser vorwiegend im GSA aufbewahrten Poesien. Die Förderung eines zweimonatigen Archivaufenthalts durch die Klassik Stiftung ist daher überaus wertvoll für meine Arbeit. Mein Dissertationsvorhaben ist an der Universität Freiburg im Breisgau angesiedelt und wird von Prof. Dr. Mario Zanucchi betreut. Hauptberuflich bin ich in der Handschriften-abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin SPK beschäftigt.
Estella Kessler (Weimar-Fellow, Juli/August 2022): Nach Abschluss meiner Promotion in der Klassischen Altertumswissenschaft an der Universität Oxford gibt die Weimar-Fellowship mir nun die Möglichkeit ein Herzensthema näher zu untersuchen: Christoph Martin Wielands Übersetzung der persönlichen Briefe des antiken Staatsmanns und Schriftstellers Marcus Tullius Cicero. Als Teil meiner Fellowship möchte ich erforschen, was ihn zu diesem Vorhaben angeregt hat. Der gewaltige Eindruck Ciceros auf Wieland lässt sich durch sein gesamtes Leben hindurch beobachten. Wieland nannte sein Landgut in Oßmannstedt nahe Weimar liebevoll „Osmantium“ in Anlehnung an den berühmten Landsitz des Cicero: das „Tusculanum“. Wieland trat besonders für das Kosmopoliten- oder Weltbürgertum ein, das ihn vor allem in der Personifizierung des Cicero zu faszinieren schien. Die Tatsache, dass Wieland selbst seinen Schreibtisch fast nie verließ, sich aber gleichzeitig dem aktiven Staatsmann so nah zu fühlen schien, macht den Reiz dieser Arbeit aus und zeigt die Widersprüchlichkeit in Wielands Person, die ich hoffentlich näher darstellen kann.
Mikhail Kuchersky (Weimar-Fellow, Januar/Februar 2022) schloss das Studium der Musikwissenschaft (M.A.), Musikpädagogik (Diplom) und des Konzertfaches Gitarre (M. Mus.) ab. Studien führten ihn an die Folkwang Universität der Künste (Essen), die Musikhochschule Münster, die Universität zu Köln und die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu seinen Auszeichnungen zählen u. a. das Promotionsstipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, das Deutschlandstipendium, das Stipendium des Mozartfestes Würzburg, das Stipendium des Nationaltheaters Mannheim, ein Erasmus-Stipendium und ein DAAD-Reisestipendium. Internationale Forschungs- und Vortragstätigkeit. Publikationen zur Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Als Weimar-Fellow erforscht Mikhail Kuchersky die Vokalmusik Johann Nepomuk Hummels.
Vanessa Lemm (Nietzsche-Fellow, September/December 2022): PhD in Philosophy (New School). She is the author of Nietzsche’s Animal Philosophy (Fordham, 2009) and Homo Natura (EUP, 2020). She is co-editor of the international journal Nietzsche-Studien. Her project in Weimar focuses on the current crises of our democratic societies with the rise of populism, fundamentalism and political radicalization in the “post-truth” era as well as the appropriation of Nietzsche’s philosophy by right-wing extremism which calls for a renewed debate on the question of the relevance of Nietzsche’s philosophy for democratic politics. In conversation with Dr. Tyson Yunkaporta, she reconsiders Nietzsche’s conception of agonism and pursues the question of whether Nietzsche’s notion of will to power is a will to relation that resonates with Indigenous Knowledges.
Matthew Lloyd (Nietzsche-Fellow, März/April 2022): In den letzten Jahren haben das Medium der Stimme, ihr Weg in gesellschaftspolitische Sphären und ihre metaphysischen Implikationen meine künstlerische Praxis stark beeinflusst. Im Rahmen meines Nietzsche-Stipendiums beabsichtige ich, meine philosophische Forschung im Zusammenhang mit der Analyse des gesprochenen Wortes, der Objekt-stimme und der Subjektivität des öffentlichen Sprechers weiter auszubauen. Der Schwerpunkt wird auf der Identität und dem Wert des aktiven nihilistischen Komikers und des misanthropischen Humors/Lachens liegen. Ich möchte die Überlegung anstellen, dass das Nietzschesche Lachen heute mehr denn je gebraucht wird, da unser Wertesystem weiter zerfällt und wir uns weiterhin den postbürgerlichen Diskursen unterwerfen. Die Stimme befindet sich auf einer problematischen und emanzipatorischen sozialen Achse.
„Auch das Lachen kann noch eine Zukunft haben.“
(Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)
Dr. Bruno Moreschi (Bauhaus Fellow, April–Juni 2022): “THE ROOTS OF ALGORITHMIC SEEING: Nature, archival representations and the making of Computer Vision.” I am a multidisciplinary artist and a postdoctoral fellow at the Faculty of Architecture and Urbanism at the University of São Paulo, after a PhD in Arts at the State University of Campinas. My investigations are related to the deconstruction of systems and the decoding of social practices in the fields of arts, technologies, visual culture and museums. I have been researching experimental methodologies to understand images that train Artificial Intelligence. These numerous images are contained in machine learning datasets. After having carried out projects with remote workers who organize and tag these images, I want to understand how computer vision deals with images representing nature. Using botanical drawings of the Herzogin Anna Amalia Bibliothek, I intend to carry out programming and artistic experiments.
Dr. Brian Pines (Nietzsche-Fellow, Juni/Juli 2022) teaches philosophy at the University of San Francisco. His current project is Nietzsche and Van Gogh: Imaginations of 1888 - a dual biography of Nietzsche and Van Gogh, concentrated on a single year. At the beginning of 1888 Nietzsche was living in Nice and Van Gogh seventy miles away in Arles. Despite their obscurity at the beginning of the year, during its course both the artist and the thinker reached heights in their craft that have immortalized them in our culture. Following this year of unprecedented parallel achievement, Nietzsche and Van Gogh suffered severe mental collapses within days of each other less than two hundred miles apart.
Marie-Christine Schoel (MWW-Fellow, August 2022): Mein Promotionsprojekt mit dem Titel „Installation & Geschlecht“ geht den feministischen Ausstellungspraktiken von Künstlerinnen seit den 1970er Jahren nach. Unter anderem unterliegen räumliche Praktiken des Zeigens und ihre geschlechterspezifischen Implikationen einer kontextreflexiven Untersuchung. In Weimar werde ich zu Handarbeiten forschen, die Goethe von Frauen zugesandt wurden. Die Präsentation dieser Handarbeiten im Wohnhaus am Frauenplan sowie ihre Funktion im Gesamt-zusammenhang des Sammlungsbestandes sollen im Fokus stehen. Daran schließt sich die Analyse posthumer gattungslogischer Katalogisierungen und der
wissenschaftlichen Rekonstruktion der Sammlungs- und Präsentationspraktiken Goethes unter geschlechter-theoretischem Blick an.
Sonya Schönberger (Bauhaus-Fellow, Oktober/November 2021) verbindet in ihrer künstlerischen Praxis ihre Studien der Ethnologie und der Experimentellen Mediengestaltung. In den letzten Jahren hat sie verschiedene Audio- und Videoarchive aufgebaut, für die sie zum einen private Gespräche mit Zeugen des Zweiten Weltkriegs führte, zum anderen die Stadt Berlin als Ausgangspunkt der Narrative wählt. Sie arbeitet auch mit gefundenen Archiven wie dem Nachlass des Journalisten André Müller, den Mosaiken der Fassade des einstigen Centrum Warenhaus am Ostbahnhof, oder den Funden einer archäologischen Grabung zur Freilegung der Baracken von Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Sie verwendet je nach Projekt verschiedene Medien wie Fotografie, Theater, Film, Installation oder Audioformate.
Dr. Mersolis Schöne (Nietzsche-Fellow, November/Dezember 2022): Ich beschäftige mich mit Methoden der filmbasierten philosophischen Forschung sowie mit Zugängen der Wissenschafts- und Philosophiekommunikation. Als multidisziplinär arbeitender Forscher, Filmemacher und bildender Künstler verbinde ich diese Zugänge mit experimentellen, poetischen und anderen künstlerischen Formen. In der Auseinandersetzung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches entstanden u.a. ethnografische (Körpersprache, 2016), experimentelle (Deternity, 2018) und essayistische (NietzscheDenken, 2018) Filmarbeiten. Das aktuelle Projekt, Friedrich Nietzsche – Das Lesen neu lesen, widmet sich in 13 internationalen Filminterviews und Leseeinheiten der faszinierenden Erforschung des philosophischen Lesens.
Dr. Niketa Stefa (Nietzsche-Fellow, November/Dezember 2022): Ich habe deutsche, italienische und russische Sprach- und Literaturwissenschaften und Philosophie in Rom und in Wien studiert und widme mich systematisch den Beziehungen zwischen den verschiedenen Literaturen und angelagerten Themen. Meine Veröffentlichungsarbeit umfasst Bereiche von Quellenedition über Phänomenologie bis zu Ästhetik. Derzeit arbeite ich an einem Projekt mit dem Titel Das Buch im Buch: die Buchlektüre als Erkenntnismovens. Was geschieht, wenn der Autor selbst als fiktive Figur als Lesender oder als dessen Zeuge in der Handlung seines Werks agiert und dabei den Akt des Lesens repräsentiert und über einen möglichen Erkenntnisgewinn für sich, die handelnden Figuren und den Leser reflektiert? Das Lesen würde in der Spanne zwischen Immersion in Akt und Distanz, in Repräsentation und Reflexion drei Figuren konvergieren: Autor, Hauptfigur, Leser. In dieser Konvergenz würde das Lesen aus dem Modus der Möglichkeit in der Beteiligung eines zukünftigen Lesers heraustreten und in den Modus des expliziten Aktes eintreten. Ich würde über einen expliziten Lesensakt sprechen, wenn der Akt des Lesens im Text selbst erlebt, repräsentiert und reflektiert wird.
Dr. Anna Talens (Bauhaus-Fellow, Januar-März 2022): Können wir aus der Entdeckung eines Fragments eine wahrheitsgemäße Geschichte rekonstruieren? „Ars Ignis, die Poesie der Zerstörung“ ist ein spezifisches Projekt im Dialog mit der Asche des Brandes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar im Jahr 2004. Nach dem mühsamen Prozess der Restaurierung und Bergung der Bücher gibt es „unkatalogisierte“ Fragmente mit einem hohen konzeptionellen und ästhetischen Potenzial. Mit diesem Projekt soll diesen Fragmenten eine neue Bedeutung verliehen werden. Eine positive Bedeutung, die uns von der regenerativen Kraft des Feuers erzählt. Die Poesie, die Schönheit und die verborgenen Bedeutungen dahinter zu finden und zu teilen. Dieses Projekt basiert auf der Idee, dass dort, wo die Wissenschaft nicht eingreifen kann, die Methodik der Kunst neue Bedeutungen und neue Möglichkeiten der Reflexion aus der Beobachtung von Details schaffen kann, die auf den ersten Blick unbemerkt bleiben.
Oliver Trepte (Weimar-Fellow, 2022) studierte Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2018 bis 2019 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Theorie und Geschichte der modernen Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar und gab zusammen mit Prof. Eva von Engelberg-Dočkal das Buch Stadtbilder Weimar. Städtische Ensembles und ihre Inszenierung nach der politischen Wende heraus. Seit 2019 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Graduiertenkolleg Identität und Erbe an der Bauhaus-Universität Weimar. In seinem Promotionsprojekt forscht er zum Weimarer Stadtbaurat August Lehrmann und der Weimarer Stadtentwicklung von 1909 bis 1945. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie von Architektur und Städtebau in der Moderne, insbesondere traditionalistisches Bauen und kommunales Bauwesen, im Feld der Heritage Studies.
Jannis Wagner (Nietzsche-Fellow, September/Oktober 2022) forscht zu Mentalitäten- und Gewissensgeschichte, besonders in Umbruchphasen und bei kollektivem Realitätsverlust, sowie zu Erfahrungen des Absurden und Erzählungen davon. Derzeit Arbeiten zu Felix Hartlaub und Heinz Dieter Kittsteiner, insbesondere in Bezug auf die Frage nach der Machbarkeit von Geschichte. Am Kolleg Friedrich Nietzsche schreibt er zu „Control – ein politisches Phantasma“, wobei Kittsteiners Deutung von Machbarkeitsvorstellungen als angstgeleitete Reaktion auf eine unverfügbare Geschichte mit weiteren theoretischen Ansätzen (Zygmunt Bauman, Wilhelm Heitmeyer) verbunden wird, sowie zu Kittsteiners Umgang mit der Denkfigur der Epochenschwelle und seinen Bezügen zu Reinhart Koselleck und Bernhard Groethuysen.
Dr. Gerrit Walczak (Weimar-Fellow, Juli/August 2022): „Edition der Weimarer Lebenserinnerungen des Malers Alexander Macco“. Macco, Historienmaler und Porträtist, war Goethe bereits 1787 in Rom begegnet, bevor er 1799 und 1828 nach Weimar kam. Die Lebenserinnerungen, die er während seines zweiten Aufenthalts verfasste, bilanzieren Jahrzehnte der Arbeitsmigration zwischen Berlin, München, Wien und London sowie immer wieder enttäuschter Hoffnungen auf eine Festanstellung. Das Fellowship dient dem Abschluss einer lange überfälligen kommentierten Edition. Gerrit Walczak ist Privatdozent an der TU Berlin und Redakteur der Zeitschrift für Kunstgeschichte. Er habilitierte sich 2009 in Hamburg und vertrat Professuren in Bochum, Köln und Greifswald. Zuletzt erschienen: Artistische Wanderer. Die Künstler(e)migranten der Französischen Revolution (2019).
Agnes Watzatka (Weimar-Fellow, März/April 2022): Ich arbeite an der Franz-Liszt-Musikakademie und am Franz Liszt Gedenkmuseum und Forschungszentrum, Budapest, als Musikwissenschaftlerin. Der Titel meines Projektes „Gregorianische Melodien in der Werkstatt Franz Liszts“, ist auch der Titel meiner Doktorarbeit, die ich an der Doktoratsschule der Kunstuniversität Graz schreibe. Mein Lebenslauf und die Liste meiner Publikationen sind auf der Internetseite des Museums zu lessen. Das Leben und Werk Franz Liszts sind ein interessantes, vielseitiges Thema. Engagierter Patriot und Weltbürger zugleich, versuchte Liszt in seinem Leben die Ideale der Offenheit, der Internationalität und der Freundschaft zu verwirklichen. Als Pianist, Komponist und Lehrer glaubte Liszt an die Kraft der Kunst und besonders der Musik, die Menschen aufzuheben und ihnen beim Schaffen einer besseren Gesellschaft zu helfen.
Kathrin Witter (Nietzsche-Fellow, März/April 2022) promoviert am German Department der Princeton University über die kritische Theorie in der DDR. Während ihrer Zeit im Nietzsche-Kolleg wird sie an dem spekulativsten Teil des Projekts arbeiten, einem Kapitel über die Nähe von Heiner Müllers Dramatik und Theodor W. Adornos Philosophie. Dabei handelt es sich weniger um eine rezeptionsgeschichtliche Forschung, denn um eine Auseinandersetzung mit der Form negativer Dialektik und ihren möglichen Erscheinungsweisen. Neben der kritischen Theorie gilt ihr Interesse dem deutschen Idealismus, der klassischen Moderne und der Literatur im Nachkriegs-deutschland. Sie schreibt gelegentlich und sehr gern journalistisch und ist Mitgründerin des Charlottenburger Instituts für Philosophie.
Dr. Kathrin Wittler (Weimar-Fellow, Mai/Juni 2022) forscht und lehrt am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre mehrfach ausgezeichnete Dissertation „Morgenländischer Glanz. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750–1850)“ erschien 2019. In Weimar arbeitet Kathrin Wittler an ihrem zweiten Buch „Die Einsamkeit des lyrischen Gedichts“ und begibt sich auf die Spuren von Goethes Natureinschreibungen, die im Archiv und in der Umgebung Weimars erhalten sind. Goethes berühmte „Inschrift“ auf dem Kickelhahn, das sogenannte zweite Nachtlied („Über allen Gipfeln“), lässt sich als wichtiges Moment einer Neuaushandlung des Verhältnisses von Natur und Schrift in der europäischen Romantik verstehen.