Lucretia mit nacktem Oberkörper und Dolch in der Hand

Cranach zum Nachmachen

Der Blick unter die Oberfläche offenbart neue Deutungen

Stumm leidend und sich in ihr Schicksal fügend schaut sie uns an: Lucretia, die Frau einer antiken Sage, die ihre Ehre nach einer Vergewaltigung durch Suizid wiederherstellte und damit zur Heldin der römischen Geschichte wurde. Das Sujet, das uns heute befremdlich erscheint, war im 16. Jahrhundert überaus beliebt. Es bot den Künstlern Gelegenheit zur Darstellung starker Affekte und erlaubte neben der Inszenierung von Lucretias Tugend stets auch den voyeuristischen Blick auf ihre entblößte Brust.

Unbekannter Künstler des 17. Jahrhunderts nach Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553), Lucretia mit entblößter Brust, sich mit beiden Händen erdolchend, um 1625–1630, Maße: 255 × 162 mm, Material/Technik: Abklatsch auf Papier, Feder mit Bister, laviert, Inv.-Nr.: KK 100, Sammlung: Graphische Sammlungen der Museen der Klassik Stiftung Weimar
Lucas Cranach d.Ä. - Lucretia (1518, Alte Meister, Kassel), Maße Bildträger: 41,6 x 28,3 cm, Malerei auf Lindenholz, Von Atelier/Werkstatt von Lucas Cranach der Ältere - judgmentofparis.com, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30826972

Doch woher kommt das Weimarer Blatt und wie ist es zu datieren? Das Motiv und der Stil ähneln anderen Lucretia-Darstellungen aus der Werkstatt Lucas Cranachs d.Ä. Insbesondere eine Tafel aus der Kasseler Gemäldegalerie ist mit der Zeichnung fast identisch. Man könnte vermuten, dass die Zeichnung als Entwurf für das Gemälde gedient hat. Oder jemand hat das Kasseler Bild abgezeichnet, um sich – lange vor Erfindung der Fotografie – die Erinnerung an die Komposition zu bewahren.

Durchlichtaufnahme mit gut sichtbarem Wasserzeichen in Form einer Krone, das eine Datierung des Papieres erlaubt

Der Blick ‚unter die Oberfläche‘ zeigt, dass beides nicht stimmt. Eine Durchlichtaufnahme des Blattes macht das Wasserzeichen in Form einer Krone sichtbar. Ausgehend davon lässt sich das Papier auf die Jahre um 1625 bis 1630 datieren. Lucas Cranach d.Ä. war zu dieser Zeit seit siebzig Jahren tot, sein Sohn, der die Werkstatt weitergeführt hat, seit vierzig Jahren. Spuren am Papier belegen zudem, dass es sich nicht um eine Zeichnung im herkömmlichen Sinn, sondern um einen ‚Abklatsch‘ handelt: Auf einem als Vorlage dienenden Gemälde wurden die Umrisslinien mit gefärbtem Pflanzensaft nachgezogen und auf das mit Leinöl transparent gemachte Papier übertragen. Anschließend zeichnete man diese Linien auf der Vorderseite nach, um eine seitenrichtige Kopie zu erhalten.

Von der Kasseler Tafel kann der Abklatsch aber nicht abgenommen sein: Sie ist zu groß. Es muss ein anderes, heute verlorenes Gemälde aus der Cranachwerkstatt mit demselben Motiv gegeben haben. Weitere Indizien finden sich auf der Rückseite des Weimarer Blattes: Hier wurde ein feines Gitternetz aufgetragen. Eine solche Quadrierung diente dazu, das Motiv in ein anderes Format zu übertragen, z.B. auf eine Holztafel. Auch zeigt der Abklatsch auf der Rückseite Details der Hintergrundlandschaft, die nicht auf die Vorderseite durchgezeichnet wurden. Auf dem Kasseler Bild erscheinen diese Details aber wieder.

Rückseite mit Quadrierung zur Übertragung des Motivs in ein anderes Format und modernem Inventarstempel

Es ist also genau anders herum, als zunächst angenommen: Der Abklatsch in Weimar diente als Vorlage für das Gemälde in Kassel, dessen Entstehungszeit dann entsprechend später anzusetzen wäre. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass im 17. Jahrhundert weitere Kopien nach dem heute nicht mehr nachweisbaren Original entstanden sind. Die genaue Untersuchung des Blattes, vor allem mit technischen Hilfsmitteln, offenbart viel mehr als der erste, oberflächliche Augenschein – und sie kann zu ganz neuen Deutungen führen. Aus diesem Grund gehört es zu den Kernaufgaben eines modernen Museums, seine Objekte regelmäßig genau unter die Lupe zu nehmen.

 

Unbekannter Künstler des 17. Jahrhunderts nach Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553)
Lucretia mit entblößter Brust, sich mit beiden Händen erdolchend
um 1625–1630

Maße: 255 × 162 mm
Material/Technik: Abklatsch auf Papier, Feder mit Bister, laviert
Inv.-Nr.: KK 100
Sammlung: Graphische Sammlungen der Museen der Klassik Stiftung Weimar
Abbildung in der Fotothek

Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.