Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.

Die Geschichte von zwei fast vergessenen Büsten des berühmten Bildhauers Jean-Antoine Houdon
Eine der wertvollsten Büsten im Rokokosaal der Anna Amalia Bibliothek zeigt keinen Dichter, sondern einen Komponisten. Carl August erwarb sie als 17-Jähriger in Frankreich. Das ist Grund genug, ihrer Geschichte einmal nachzugehen. Im Dezember 1774 brachen Carl August und sein Bruder Constantin in Begleitung ihrer Erzieher zu einer Kavaliersreise auf. Diese sollte eigentlich in die Schweiz führen. Von Straßburg aus baten die Prinzen darum, nach Paris reisen zu dürfen, der zu dieser Zeit kulturell führenden Metropole. Zuvor hatte Carl August in Frankfurt am Main die Bekanntschaft Goethes gemacht – ein Ereignis, dessen Tragweite kaum abzusehen war.
Der Weimarer Hof war sehr gut über das kulturelle Leben in der französischen Hauptstadt informiert. Insbesondere die triumphale Uraufführung von Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigénie en Aulide“ im April 1774 hatte Anna Amalias Interesse geweckt. Sie erwarb die Noten des Stücks und wünschte sich ein Exemplar von Jean-Antoine Houdons Büste der Sängerin Sophie Arnould in der Titelrolle.
In Paris stand der Reisegesellschaft Friedrich Melchior von Grimm als Cicerone zur Verfügung. Die Prinzen logierten im Palais-Royal, einem Gebäudekomplex in unmittelbarer Nachbarschaft des Louvre, in dem sich auch die Oper befand. Hier sahen sie am 3. März 1775 Glucks „Iphigénie en Aulide“. Fünf Tage später trafen sie den Komponisten persönlich.
Am 15. März besuchten sie das Atelier Jean-Antoine Houdons im nahegelegenen Gebäude der königlichen Bibliothek. Hier erwarb Carl August für seine Mutter die Büste der Sängerin Sophie Arnould. Zudem kaufte er das zugehörige Bildnis Glucks und begann damit seine eigene Sammeltätigkeit.


Jean-Antoine Houdon avancierte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zum Bildhauer der Aufklärung schlechthin. Die von Carl August erworbenen Büsten zeigen ihn auf der Höhe seiner Kunst: Das Porträt Sophie Arnoulds gilt der Diva in der Titelrolle von Glucks „Iphigénie en Aulide“.
Dargestellt ist wohl der Höhepunkt der Oper, als die zum Menschenopfer bestimmte Prinzessin mit großer Geste Abschied von ihrem Geliebten nimmt. Das Kostüm mit den Rosen im Haar, der mit Stern und Mond besetzten Schärpe und der entblößten Brust entspricht nicht dem historischen Bühnenauftritt, steigert aber das sentimentale Pathos.
Der künstlerische Rang der Büste Christoph Willibald Glucks zeigt sich in der Nahsicht: Die bewegte Behandlung der Oberflächen, vom zerzausten Haar über die pockennarbige Gesichtshaut bis zur grob gestrichelten Textur des Gewands ist äußerst modern. Im Salon von 1775 kritisieren einige von Houdons Zeitgenossen die Wiedergabe der ‚Hautdefekte‘ als übertriebenen Verismus.
Ungeachtet ihrer inhaltlichen Nähe wurden die beiden komplementären Bildnisse in Weimar getrennt überliefert. Sophie Arnould geriet auf Schloss Tiefurt in Vergessenheit und wurde erst 1999 im Depot wiederentdeckt.


Gluck zählt zum ältesten Bestand des Rokokosaals, ist an seinem tradierten Standort für die Besucher aber kaum zu sehen: Seit zwei Jahrhunderten steht er in einer Fensternische neben der Treppe zur ersten Galerie und erinnert an die Parisreise des jungen Carl August.