Goethes Topfpflanzen

von Sonya Schönberger

Als ich 2018 nach vielen Jahren Weimar wieder einmal besuchte, nutzte ich die Gelegenheit, mir das Goethe-Wohnhaus anzuschauen. Es waren nicht viele Besucher*innen zugegen, und so konnte ich mich in Ruhe umschauen. Auf dem Weg zu den Christianezimmern stand im Durchgang ein Herr der Aufsicht, der mir den Rücken zuwandte und gedankenverloren eine Pflanze berührte, die dort auf dem Fenstersims stand. Diese kleine Geste wurde zum Auslöser für die Assoziationen, die sich in der Zeit darauf um die Topfpflanzen in diesem Museum entsponnen haben: Sind nicht die Pflanzen neben den Besucher*Innen und den Aufsichten das einzig (sichtbar) lebendige Element in diesem Arrangement? Ein Element, das zumindest das Potential der Veränderung und Anti-Starrheit in sich trägt? Und haben sie dadurch nicht von vornherein einen subversiven, fast anarchistischen Status und sind zudem mobil, bewegen sich durch die Räume, insofern die Menschen es wollen.

In Goethes Wohnhaus befinden sich aktuell eine Opuntia monacantha (Kakteenart) im Arbeitsvorzimmer, drei Bryophyllen (Brutblätter),zwei davon im Arbeitszimmer, eine in einem der Christianezimmer, in denen sich außerdem ein Haemanthus albiflos (Elefantenohr), eine Begonia rex, ein Pelargonium crispum (Zitronenduftpelargonie) sowie eine Passiflora (Passionsblume) und zwei Chlorophyten comosum (Grünlilien) befinden.

Das Geschäft mit exotischen Pflanzen hat in den Haushalten der französischen und englischen Aristokratie eine lange Tradition: Schon 1605 fand in London ein Kongress der Pflanzenhändler statt. Im späten 18. Jahrhundert expandierte das britische Unternehmen Veitch and Sons zum größten auf tropische Pflanzen spezialisierten Blumenhandel Europas. Wie seine Konkurrenz stellte James Veitch professionelle Pflanzenjäger ein, die mit der kolonialen Expansion des British Empire und anderer europäischen Staaten Zugang zu unbekannten und nun zu erobernden Gebieten der Welt erhielten. Da sie glaubten, dass sowohl Menschen, als auch Fauna und Flora, die sie antrafen, ohne Frage denen gehörten, die sie entdeckten, gab es keine Grenzen der Ausbeutung zugunsten der überlegenen westlichen Gesellschaft. Die Pflanzenjäger schickten Samen, Zwiebeln und Knollen zur Vermehrung nach Hause. Wohlhabende Sammler waren bereit, enorme Geldbeträge für seltene Pflanzen zu zahlen, so dass das Sammeln schließlich die Arten vor Ort gefährdete. Viele wilde Orchideen, Kakteen und Palmen waren vom Aussterben bedroht, nicht wenige verschwanden für immer. Das gehört zu den vom Mensch verursachten Umständen, die die Ära des Anthropozäns ausmachen. Schon der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859), der in engem Austausch mit Goethe stand, beschrieb menschengemachte regionale Umweltzerstörung in Lateinamerika. Auch in den Reisebeschreibungen Georg Forsters (1754–1794), der auf der zweiten Weltumseglung James Cooks zugegen war, finden wir solche Anmerkungen.

Es gibt Forscher*innen, die den Beginn dieses Zeitalters des Menschen, in dem wir uns aktuell befinden, bereits hier in diesem frühneuzeitlichen Artenaustausch zwischen bislang weitestgehend isolierten Kontinenten sehen – und nicht erst in der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Für Geolog*innen des University College London markiert das Jahr 1610 den Beginn: Durch das Einschleppen von Krankheiten in die Neue Welt – unter anderem durch Pflanzen und Tiere –und die Kolonialisierung der Urbevölkerung des amerikanischen Kontinents kamen nach Schätzungen mehr als 50 Millionen Menschen in nur zwei Generationen ums Leben. Dieses Massensterben führte dazu, dass unendlich viele Hektar Agrarflächen brach lagen, was für einen markanten Rückgang der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre sorgte. Seit diesem Rückgang steigt die Konzentration kontinuierlich und inzwischen immer schneller an.

Eine scheinbar banale Erfindung aus dem Jahr 1832 revolutionierte das Geschäft des Pflanzenaustausches: der Wardsche Kasten. Dieser sicherte den Händlern, Jägern, Forschern und Botanikern das Überleben der Exoten bei oft sehr brutalen Überfahrten über die Weltmeere. Der Wardsche Kasten ist eine „Einrichtung zum Transportieren und zur Kultur von Pflanzen unter sonst ungünstigen Verhältnissen. Er besteht aus einem flachen metallenen, gut gestrichenen Bodenstück, auf welchem sich ein metallenes Gestell zur Aufnahme von Glasplatten erhebt. Letztere bilden die Seitenwände und die Decke des Kastens. Das Bodenstück, welches einen einige Zoll hohen Rand besitzt, füllt man mit Erde, steckt in diese die Samen oder die Pflanzen, begießt und schließt dann den Kasten vollständig. Die Pflanzen gedeihen vorzüglich, denn sie sind vor Staub und schroffem Temperaturwechsel geschützt und hinlänglich mit Feuchtigkeit versehen, da das Wasser nie verdunsten kann.“[1] Der Transport von lebenden Pflanzen scheiterte vor dieser Erfindung oft an den Bedingungen der Überseefahrt. Der Samentransport erlaubte zwar den globalen Austausch und die Kultivierung neuer Arten, aber die Möglichkeit, eine neue Pflanzenart während der Überfahrt und am Zielort mit relativ wenig Aufwand am Leben zu halten verlieh dem Pflanzengeschäft eine neue Qualität und ein neues Ausmaß.[2] Der katastrophale Nebeneffekt dieser Erfindung ist die Einführung invasiver Arten und Pflanzenkrankheiten und die damit einhergehende Zerstörung ganzer Ökosysteme.

Für Mitteleuropa gibt es bis zum 17. Jahrhundert wenige Hinweise auf eine Kultur von Pflanzen in Wohnräumen. Der Lebensstandard war niedrig, und es gab wenig Vorstellung über die Nützlichkeit von Pflanzen in häuslichen Stuben. Die Neuheiten aus Übersee wurden zunächst in botanischen Gärten und höfischen Privatsammlungen gezogen und präsentiert. Mit Beginn des bürgerlichen Zeitalters Ende des 18. Jahrhunderts, jedoch besonders ab der Zeit des Biedermeier mit seiner Vorstellung vom Rückzug ins Private, wurden Blumentische Bestandteile der Salons. Man begann dort, die Natur als Element zu verstehen, und erkannte das Potential der Pflanzen, häusliche Innenräume und somit das Leben zu verschönern. Architekturreformen und die Entwicklung neuer Verfahren zur Glasherstellung sorgten für den Einbau größerer Fenster und dadurch für eine verbesserte Lichtzufuhr in den Wohnräumen. So konnten die Zimmerpflanzen besser gedeihen. Ende des 19. Jahrhunderts umfasste das Sortiment bereits Begonien, Clivia, Alpenveilchen und Flamingoblumen sowie Blattschmuckpflanzen, wie Farne, Grünlilien, Bogenhanf, Efeu und Gummibäume.

In der Bauhausarchitektur sorgten große, oft raumhohe Fenster für einen nahtlosen Übergang der Innenräume in den Garten und verbanden dadurch das Außen mit dem Innen. Zimmerpflanzen wurden von Architekten als überflüssig betrachtet und nicht unbedingt vorgesehen. Nach der vergleichsweise kurzen Zeit des Bauhauses und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam die Kultur von Zimmerpflanzen wieder in Schwung. Breite Fenster mit tiefen Fensterbänken zur Aufstellung von Blumentöpfen oder sogar mit eingebauten Trögen zur Bepflanzung wurden beliebt. Nun veränderte sich der Bezug zu den Zierpflanzen endgültig, denn der Wunsch nach Lebendigem und scheinbar Natürlichem im Hause wuchs klassenübergreifend. Seit den 2010er Jahren werden Pflanzen aus früheren Jahrzehnten auch über soziale Medien popularisiert. Woher die Pflanzen kommen und welche Bedürfnisse sie haben, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen dieser Kommerzialisierung entwickelte sich ein Blumenhandel, der heute gigantische Ausmaße erreicht hat.

Die meisten als Zimmerpflanzen gehaltenen Pflanzenarten stammen aus dem Bereich des tropischen Regenwalds und den angrenzenden Gebieten. Die Sonne scheint dort konstant etwa zwölf Stunden. Niederschläge sind gleichmäßig über das Jahr verteilt, und die durchschnittliche Tagestemperatur ist abhängig von der jeweiligen Höhenlage. In tropischen Wäldern, die nicht über 600 Meter liegen, beträgt sie gewöhnlich gleichmäßig über das gesamte Jahr zwischen 24 und 28 Grad Celsius.

Neben einer Verantwortung gegenüber den kolonisierten Pflanzen gilt es mitzudenken, dass die Blumen- und Pflanzenindustrie heute die durch die Kolonialisierung ausgelöste Unterdrückung auf ökonomischer Ebene fortsetzt. Arbeitnehmer*innen in vielen Ländern des globalen Südens sind seit Jahrzehnten gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen in dieser Industrie zu arbeiten, was ihre Gesundheit erheblich gefährdet. Diese Industrie hat bereits ökologische Katastrophen ausgelöst. Weil Lebensräume von Arbeiter*innen zerstört wurden, gerieten diese noch weiter in ein Abhängigkeitssystem und eine Spirale von Armut und Ausbeutung.

Goethe näherte sich Pflanzen literarisch, künstlerisch, wissenschaftlich und auch gärtnerisch an. Auf seine Anregung kam eine ganze Reihe von Pflanzen nach Weimar. Mit Herzog Carl August teilte er das Interesse an Botanik, und so entstand in Belvedere ein Garten, der nicht systematisch aufgebaut wurde, sondern sich an ihrer beiden Vorlieben orientierte. Goethe lernte dort 1817 eine aus Kalkutta stammende, vermutlich über London und Hannover nach Weimar verschickte Pflanze Bryophyllum calycinum, oder Brutblatt, kennen. Er nahm Ableger mit nach Hause, wo er sie jahrelang beobachtete und erforschte. Für seine Vorstellungen von der Entwicklung der Pflanzen gewann dieses Brutblatt besondere Bedeutung. Vor allem die Entwicklung und Art der Vermehrung faszinierten Goethe: Aus einem Blatt, ob am Stamm befindlich oder getrennt von der Pflanze auf Erde liegend, entstehen neue Pflänzchen. An den Botaniker Nees von Esenbeck schrieb Goethe 1820: „Sonderbar genug ist es, wie diese Pflanze sich unter veränderten Umständen augenblicklich modificirt und ihre Allpflanzenschaft durch Dulden und Nachgiebigkeit, so wie durch gelegentliches übermüthiges Vordringen auf das wundersamste zu Tag legt. Warum ich leidenschaftlich diesem Geschöpfe zugethan bin, versteht niemand besser als Sie.“[3]Das Brutblatt war für Goethe nicht nur von naturwissenschaftlicher Bedeutung, sondern auch ein wichtiges Symbol für die sich stets verjüngende Freundschaft und das liebevolle Gedenken. An zahlreiche Freund*innen, wie die Schauspielerin Marianne von Willemer, schickte Goethe Ableger der Pflanze mit Versen über ihr Wachstum und ihre Pflege.

In den 1990er Jahren wurde ein Bepflanzungskonzept für Innenräume einiger Museen der Klassik Stiftung erstellt, das sich auch an der Frage orientierte, wo könnte zu Goethes Zeiten welche Pflanze gestanden haben, was macht wo Sinn. Eine Keramikerin wurde beauftragt, Blumentöpfe herzustellen, die sich an Vorgaben aus der Goethezeit orientierten: Welche Topfform aus welchem Material lässt welche Pflanze am besten gedeihen? Es gab außerdem eine halbtags angestellte Person, die für die Pflanzen in allen Häusern zuständig war.

Die Installation Goethes Topfpflanzen vereint die sich aktuell im Haus befindlichen Pflanzen zum ersten Mal und wirft einen Blick auf ihre Existenz und Herkunft. Es sind nicht mehr Goethes Brutblätter, Kakteen und Grünlilien, sondern nun museale Exemplare. Eine Hommage an sie.

Dieser Text setzt sich zusammen aus einer künstlerischen Recherche und hat keinen Anspruch auf die Wahrheit.   ©Sonya Schönberger, www.sonyaschoenberger.de

[1] „Wardscher Kasten“, in: Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., Bd. 16 (1890), S. 389.

[2] Vgl. Luke Keogh: The Wardian Case: How a Simple Box Moved Plants and Changed the World, Chicago 2020.

[3] Johann Wolfgang von Goethe an Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, 23. Juli 1820. In: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 33, Weimar 1905, S. 125-127.

Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.